Nicht nur an den Ostseeküsten waren Geschichten über dämonische Kreaturen bekannt. Auch in West- und Ostpreußen, in Litauen und sogar bis nach Polen erzählten sich die Leute seit jeher gruselige Begebenheiten über Vampire, Werwölfe und Unterirdische. Also sind diese Gestalten keineswegs eine Erfindung der Neuzeit, sondern haben ihren Ursprung in längst vergangenen Zeiten. Ludwig Bechstein sammelte für sein 1853 veröffentlichtes Werk „Deutsches Sagenbuch“ die vom Volksmunde weitergegebenen Mythen über verschiedene Begegnungen der ungeheuerlichen Art.
Carolin Eberhardt
Als Werwolf, so erzählten die Menschen, sei ein Mensch zu verstehen, welcher sich während der Nachtstunden wie von Zauberhand in ein reißendes Tier verwandeln könne. Meist erscheint das Wesen dann als ein überdurchschnittlich großer Wolf, welcher das Vieh anfällt und auch Menschen nicht verschont. Dabei saugt er seinen Opfern das warme Blut direkt aus den Herzen.
Eines Nachts ging ein Jäger aus Danzig durch sein Revier, als er sich plötzlich durch einen ungewöhnlich großen Wolf angefallen sah. Dem Angriff konnte er sich mit einem Schuss aus seiner Waffe erwehren. Seine Kugel traf den Wolf an der Vorderpfote, woraufhin das Tier mit lautem Geheul und hinkend die Flucht ergriff. Als der Jäger sein Gewehr zur Sicherheit nachgeladen hatte, folgte er der Blutspur mit der Absicht, in den Besitz des schönen Wolfspelzes zu gelangen. Die Spur führte ihn durch den Wald, bis zu einer kleinen Hütte und sogar in diese hinein. Als er eintrat, erblickte er eine Frau, welche in diesem Moment die Hand eines Mannes verband, die eindeutig von einer Gewehrkugel zerschmettert worden war. Der Jäger meldete diesen Vorgang etwas verwirrt, dennoch unverzüglich den zuständigen Behörden, woraufhin der Werwolf gefangen genommen wurde, seine Fähigkeit zur Gestaltwandlung eingestand und kurzerhand lebendig verbrannt wurde.
Einst wurde vor Herzog Albert ein Gefangener der Bauern geführt, welcher beschuldigt wurde, ein Werwolf zu sein. Der Herzog wollte zunächst Gewissheit über den Sachverhalt erlangen, bevor er ein Urteil fällte. Und so befahl er seinen Bediensteten, den Mann genau zu beobachten, insbesondere im Moment seiner Verwandlung. Die Gefangennahme aber brachte den Beschuldigten ganz ohne Zwang zu einem Geständnis darüber, dass er sich alljährlich um das Johannisfest und um Weihnachten ganz wild fühle. Dann wachsen ihm unter großen Schmerzen Wolfshaare und er bekomme einen heftigen und unbändigen Trieb, Menschen und Tiere zu zerfleischen. Er habe den Bauern wohl unter solch einer Verwandlung einige Enten und Gänse, eventuell auch Schafe gerissen. Eine Verwandlung des Gefangenen aber konnte durch seine Wächter nicht beobachtet werden.
In Liefland (eine historische Landschaft im Baltikum) wussten die Leute von einem hinkenden Jungen zu berichten, welcher nach der Christnacht durch die Orte ging und die Bösen zusammenrief wie der Hirte seine Herde. Ein anderer lang gewachsener Mann verprügelte dabei die Säumigen, die nicht folgen wollten, grausam mit einer Draht – und Stachelgeisel und trieb sie mit Zwang vor sich her. Während sie diesem unheimlichen Hirten folgten, nahmen die Bösen nach und nach eine Wolfsgestalt an. Die frisch Verwandelten griffen nun jede Tierherde an, die ihren Weg kreuzte. Menschen aber durften sie nicht anfallen. Verstellte ein Fluss den Weg des entstandenen Werwolfheeres, so teilte ihr Anführer, der Hirte, mit seiner Rute das fließende Wasser, damit sein Gefolge das Flussbett trockenen Fußes durchqueren konnte. Dieses Treiben lässt sich nur die 12 Tage im Jahr beobachten, welche vom ersten Christtag bis zu dem Heiligen-drei-Königstage dauern. Danach verwandeln sich die schrecklichen Ungetüme wieder in ihre menschliche Gestalt zurück.
nacherzählt von Carolin Eberhardt
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Textquelle:
Bechstein, Ludwig: Deutsches Sagenbuch, Leipzig: Verlag von Georg Wigand, 1853.
Bildquelle:
Vorschaubild: The Werewolf Howls, 1941, Urheber: Mont Sudbury via Wikimedia Commons Gemeinfrei.
Loup-garou-Lebrun, 1806, Urheber: Ch. Lebrun et Morel d'Arleux via Wikimedia Commons Gemeinfrei.