Die Geschichte vom Rattenfänger in Hameln ist eine der bekanntesten deutschen Sagen. Sie wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und ist auch in vielen anderen Ländern, so in Japan und den USA, sehr verbreitet. Die heutige Geschichtsforschung geht mehrheitlich davon aus, dass die Erzählung einen wahren Hintergrund hat. Offenbar ist im 13. Jahrhundert (fast) die gesamte hoffnungsvolle Jugend der im heutigen Landkreis Hameln-Pyrmont in Niedersachsen gelegenen Stadt Hameln im Zuge der deutschen Ostkolonisation ausgewandert und hat sich im nördlichen Brandenburg und im südlichen Vorpommern angesiedelt.
Sie folgte dabei wahrscheinlich einem der Werber, die von den östlichen Landesherrn in die westlich gelegenen Gebiete gesandt wurden, um arbeitskräftige neue Untertanen für ihre dünn besiedelten Gebiete zu gewinnen.
Diese historische Überlieferung wurde wahrscheinlich später mit einer Rattenfängergeschichte verknüpft.
Andreas Werner
Die Kinder von Hameln
Es geschah im Jahre 1284, daß ein Mann von wunderlichem Aussehen und bunter Tracht nach Hameln kam, der war ein Rattenfänger und versprach, gegen ein gewisses Geld die ganze Stadt von dem Ungeziefer der Ratten und Mause zu befreien. Das wurde ihm denn von einem hohen Rate und der Bürgerschaft zugesichert, und darauf zog derselbe Mann eine Flöte hervor, ging durch die Gassen und pfiff, und siehe, da kamen die Ratten und Mäuse aus allen Häusern gesprungen und liefen in Scharen hinter ihm her. Da nun der Rattenpfeifer durch alle Gassen gegangen war, so wandelte er mit seinem grauen Gefolge durchs Wesertor hinaus dem Strome zu, schürzte sein Gewand, trat in den Strom, Ratten und Mäuse folgten ihm blindlings nach und ersoffen wie Pharaos Heer im Roten Meere. Nun waren aber die Bürger zu Hameln damaliger Zeit gerade so schrecklich klug wie viele Menschen noch heutzutage nicht nur zu Hameln, sondern allüberall, sie legten den Maßstab des Lohnes nicht an die Kunst und Wissenschaft, die einer innehatte, sondern an die Arbeit und Plage, die einer hat, um etwas zu vollbringen, und sprachen unter sich:
Es ist doch sündhaft viel Geld, was dieser Rattenfänger sich ausbedungen hat für so gar keine Mühe; ja wenn er Fallen gestellt und Gift gelegt hätte in jedem Hause, das ließe sich hören - aber so! Und ist es nicht verwerflich, daß er das Ungeziefer in die Weser gelockt hat, wo es nun die Fische fressen? Da mag ein anderer Weserfische essen, wir danken dafür. Und wie hat er es denn vollbracht? Mit einem Satanskunststück! Vielleicht gar nur ein Blendwerk; wenn er das Geld hat und fort ist, haben wir zuletzt unsere Ratten wieder. Wir wollen ihm nur das halbe Geld geben, und wenn ihm das nicht recht ist, so wollen wir ihn als einen Zauberer in den Turm werfen und abwarten, ob die Ratten und Mäuse nicht wiederkommen. - So sprachen erst unter sich die vorsichtigen und weisen, auch höchst sparsamen Bürger und Ratsherren zu Hameln, dann hielten sie das alles dem Rattenfänger vor und boten ihm das halbe Geld und drohten ihm mit dem Turm. Da nahm der Künstler das Geld und ging im Zorn.
Darauf geschah es, daß am Tage Johannis und Pauli, der heiligen Martyrer, am 26. Tag des Heumondes, als die Leute in der Kirche waren, derselbe Rattenfänger wieder in den Straßen zu Hameln gesehen wurde, aber in der Tracht eines Jägers mit schrecklichem Angesicht und mit einem roten, verwunderlichen Hut, und er pfiff durch alle Gassen. Da kamen aber keine Ratten und Mäuse aus den Häusern, denn die blieben vertrieben und aufgerieben, wohl aber die Kinder, Knaben und Mädchen vom vierten Jahre an, und liefen dem Rattenfänger nach, auch eine schon ziemlich große Tochter des Bürgermeisters, der am meisten den Künstler angegangen und bedroht hatte, und die Kinder folgten ihm mit großen Freuden, führten sich an den Händen und hatten ihre Lust, selbst ein blinder und ein stummer Knabe gingen als die letzten mit im Zuge, und der Stumme führte den Blinden. Hinter ihnen kam auch noch eine Kindsmagd, die ein Kind im Mantel trug, die wollte auch sehen, wo es denn hingehen sollte. Der Schwarm zog, der Jäger an der Spitze, die schmale Gasse zum Ostertore hinauf und dann hinaus auf den Koppelberg zu. Der tat sich auf, der Pfeifer ging voran, die Kinder folgten, nur der stumme Knabe und der Binde, den er führte, blieben draußen, weil der Blinde nicht so sehr eilen konnte, denn knapp vor ihnen tat sich der Berg mit einem Male wieder zu. Da wandte sich die Kindsmagd auch wieder um und brachte das Geschrei aus in der Stadt, daß die Kinder in den Koppelberg geführt worden waren. Welch ein großer Schrecken! Die Kirche wurde geschlossen, die Eltern eilten voll Angst hinaus zum Berge, kaum fanden sie noch eine schmale Schluft als Wahrzeichen.
Einhundertunddreißig Kinder verschwanden, und nie kamen sie wieder. In der gan-zen Stadt waren nur ein herzzerreißendes Jammern und Wehklagen und aufs neue schmerzlich offenbar, daß der blödsinnige Geiz und die torheitvolle Sparsucht die Wurzeln allen Übels sind. Lange, lange trauerte Hameln um seine verlorenen Kinder - zwei steinerne Grabeskreuze wurden ihnen an der Stelle geweiht, wo der Berg sich hinter den Kindern geschlossen - eines den Knaben und eines den Mägdlein. In der Straße, durch die der Zug zuletzt gegangen, durfte nie wieder Trommelschall und Musikgetöne laut werden, selbst der Brautzüge Musik musste in ihr verstummen. Deshalb wird sie auch bis heute die Bungen-(Trommel-)straße genannt, weil in ihr nicht getrommelt werden darf.
Der Unglückstag blieb schwarz angeschrieben in Hamelns Annalen; das Rathaus verewigte sein Andenken in diesen Zeilen einer Steinschrift:
Im jar 1284 na Christi gebort
tho Hamel worden uthgevort
hundert vnd driczig kinder, dosülvest geborn,
dorch enen piper vnter den köppen verlorn.
An der neuen Pforte wurde die Kunde lateinisch in Stein geschrieben; im Jahr 1572 ließ der damalige Bürgermeister die Wundermär in der Glasmalerei der Kirchenfenster bildlich erneuern, die ohne dies von Mund zu Munde gehend, unsterblich fortlebte.
Noch geht die Sage, daß die Kinder von Hameln unter der Erde hinweg nach dem Lande Siebenbürgen geführt worden seien, wo sie wieder an das Tageslicht gekommen und dort, nachdem sie erwachsen, den sächsisch-deutschen Volksstamm begründet hätten. Den grausamen Rattenfänger und Teufelspfeifer hat niemand wiedergesehen, aber nach ihm haben hernachmals alle Ratten- und Mäusefänger des Heiligen Römischen Reichs Jägertracht angelegt und sich Kammerjäger genannt, so wie es Kammerknechte, Kammerboten und andere Kammerbetitelte gab und noch gibt.
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Textquelle: entnommen aus, Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1930 - bearbeitet von Andreas Werner
Bildquelle:
Bild 1: wikipedia; Reisechronik des Augustin von Moersperg 1592, Aquarell, gemeinfrei
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Pied_piper.jpg&filetimestamp=20050302171048
Bild 2: wikipedia; Illustration von Kate Greenaway zu Robert Brownings Adaption der Sage, gemeinfrei
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Pied_Piper_-_illustration_by_Kate_Greenaway_-_Project_Gutenberg_eText_18343.jpg&filetimestamp=20060713170948