Es ist kalt und still in dieser ersten Januarwoche. Aus den Kaffeebechern ringsum steigen violette Dampfschwaden in den noch dunklen Morgenhimmel. Die Stadttauben gurren kehlig. Auf ihrer unendlichen Suche nach Essbarem stoßen sie auf zerfetzte Silvesterüberreste, zertretene Zigarettenstummel, körniges Streugut. Mittlerweile haben auch sie begriffen: Hier schenkt sich niemand etwas; nicht mal einen Krümel Beachtung, nicht mal einen Krümel.
Bewegung kommt in die müden Gelenke. Quietschend und ratternd rollt die Tram 66 ein. Getrampel, Geflatter, Gestöhne und mit einem giftigen Zischen öffnen sich die Türen. Menschen in Strick strömen raus, Menschen in Wolle strömen rein. Mit ihnen kommen Kälte und Gier. Dazwischen mal ein Kind oder ein Hund. Etwas braucht das Herz nun mal, um nicht endgültig zu erfrieren.
Der letzte Rest Müdigkeit ist dem Wetteifer gewichen. Im Kampf um die begehrten Sitzplätze ist sich jeder Feind. Nicht, dass man es einander ansehen würde: Nach außen hin trägt man Maske, so gehört es sich. Nach außen heuchelt man Desinteresse, während im Inneren der aufflammende Hass ein neues Opfer forciert. Und an diesem Morgen ist es schnell gefunden. Sie bricht das Schweigen und damit den unausgesprochenen Eid der Morgenpendler. Als die Tram 66 um 8.17 Uhr Fahrt aufnimmt, Halteschlaufen gegriffen und die letzten Sitzplätze gefüllt werden, beginnt eine junge Frau ihr Tagewerk.
„Guten Morgen. Hätten Sie zufällig etwas Kleingeld übrig?“
Die Musik wird lauter gestellt, die vorbeifliegenden Gebäude intensiver fokussiert, während sie geduldig Reihe um Reihe abschreitet. Eine schwarze Regenjacke (zu weit für ihre Statur, zu dünn für die winterlichen Temperaturen) verrät, dass sie heute morgen nicht die Qual der Wahl hatte. Auf dem Kopf trägt sie eine graue Wollmütze, ihre Haare sind dunkel und strähnig, aber ihr Blick blitzt klar und frisch. In ihrer Stimme schwingt Professionalität. Die Wenigen, die sich ihr erbarmen zu antworten, geben nichts außer faule Ausreden: Man muss gleich aussteigen…hat kein Bargeld… hat doch selbst zu wenig. Sie nickt verständnisvoll und zieht zum Nächsten.
Woher, denke ich, nimmt sie dieses Verständnis? Woher, denken wir, nimmt sie ihre Kraft?
Noch bevor die Tram 66 ihren nächsten Halt erreicht, setzt sie sich auf einen Vierersitz am anderen Ende des Waggons. Gleich dem zuckenden Schwanz einer Raubkatze, ist ihr Körper in Bereitschaft. Jeder Muskel ist gespannt, fertig zum Sprung, muss es sein - Tag ein, Tag aus - und erst recht dann, wenn das schwindende Licht in Schwarz verwelkt.
Vielleicht hat ihr Körper es geahnt, bevor ihr Geist es tat. Jedenfalls springt sie jetzt auf. Springt auf und schreit, ihre Stimme wackelt dabei. Professionell wirken jetzt nur noch die Gaffer. Man hat sie angespuckt, hat ihr vor die Füße gespuckt und sie eine „dreckige Schlampe“ genannt. Man ist rund 40 Jahre alt und voll, wie die Straßen im Berufsverkehr.
Betroffen blicken wir weg. Lieber nicht. Nicht heute. Nicht jetzt. Wenn es doch schon 10 Uhr wäre, dann wär‘ man schon was wacher, dann hätt‘ man schon was geschafft, dann bestimmt. Aber gerade lieber nicht.
Sie steht vor der verschlossenen Tramtür und flucht. Sie hat Angst, es ist nicht zu überstehen. Sie hat Angst und flucht, weil sie keine Wahl hat, weil die verdammten Türen verschlossen sind, beißt sie um sich, wie ein tollwütiger Köter. Aber nach Hilfe ruft sie nicht.
Da löst sich aus der Schockstarre der Gaffenden eine Männergestalt. Er riecht nach günstigem Rasierwasser und hat grau meliertes Haar. Eine tiefe, jahrzehnttiefe Müdigkeit kauert in seinen Lidkuhlen. Kauert dort wie ein Soldat im Schützengraben, der sich schon vor zähen Stunden ergeben hat. Man vermutet, dass seine dunklen Augen bereits zu viel gesehen haben, als dass sie jetzt noch des Übersehens fähig sind. Man vermutet.
Schnurstracks geht er auf die junge Frau zu. Wir haben ihn vor ihr bemerkt. Als er ihr auf die Schulter tippt, fährt sie erschrocken um. Sie hat damit nicht gerechnet. Man schon. Dann streckt er ihr etwas entgegen und aus purem Reflex greift sie zu. Ihre Augen sind dabei schreckgeweitet. Dann öffnen sich die Türen: Ein Stoß Fahrgäste und eine frische Welle Zusteigender, spülen sie hinaus auf die Straße.
Da kommt sie zu sich und schaut in ihre geschlossene Faust, schaut perplex, schaut sich um. Doch der Mann ist verschwunden. Die Türen schließen sich wieder, eine neue Menschentraube bezieht Platz, dann setzt sich die Tram schaukelnd in Bewegung. Man verdreht sich die Hälse, stielt sich fast die Augen aus, doch an der geschlossenen Wollmantelfront kommt kein Blick vorbei.
Bevor die Tram um eine Ecke biegt, erhaschen wir Alteingesessenen noch einen letzten Blick auf die Haltestelle: Das Auge braucht eine Weile, bis es zwischen den Menschenmassen ihre dürre Gestalt ausfindig macht. Aber da steht sie! Inmitten von Taubenscharen und ausgetretenen Zigarettenstummeln. An anderen Tagen hätte man sie leicht übersehen können. Aber nicht heute, heute nicht, denn heute will man sie sehen. Und was man sieht, erfreut und beschämt zugleich, denn aus ihrer rechten Hand leuchtet ein orangener Schein und aus ihrem Gesicht ein Lächeln.
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Vorschaubild: obdachloser-bettler-armut-betteln-5559310,2020, Urheber: Myriams-Fotos via Pixabay CCO.