Die schwedische Schriftstellerin Sofie M. von Knorring (1797–1848) war im Sommer 1846 in kleiner Reisegesellschaft unterwegs in deutschen Landen. Zu ihrer Reisebegleitung zählte ein Baron H. – vermutlich mit Gemahlin – und K., womit sicherlich Oberst Baron Sebastian von Knorring gemeint ist, mit dem Sofie seit 1820 verheiratet war. Mit dem Schiff war die Gruppe über die Ostsee nach Stettin gekommen, von dort reisten sie mit der Eisenbahn weiter nach Berlin.
Die 134,5 km lange Strecke war erst drei Jahre zuvor eröffnet worden und zählt zu den ältesten deutschen Fernstrecken. Nachdem die überhaupt allererste Eisenbahn bereits 1825 in England an den Start gegangen war, hatten Frankreich ab 1827 und Belgien ab 1835 nachgezogen. Die Großstadt Berlin, die bisher nur über den Umweg Havel-Elbe-Nordsee Zugang zum Meer erhielt, sicherte sich mit der Bahnlinie zum nächstgelegenen Ostseehafen den Anschluss an den Welthandel. Es waren v.a. Kaufleute aus Berlin und Stettin, die in Privatinitiative den Bau der Strecke auf den Weg brachten und finanzierten. 1836 hatten sie zur Planung des Vorhabens das Berliner-Stettiner-Eisenbahn-Comité, und zur Umsetzung 1840 die Berliner-Stettiner Eisenbahngesellschaft gegründet. Grundstücke mussten gekauft, Brücken und Gleisbett gebaut werden. Das Projekt kostete mehr als 2,7 Mio Taler; und bereits am 1. August 1843 konnte die einspurige Strecke feierlich eröffnet und nun mit Volldampf befahren werden.
Die 49-jährige Sofia von Knorring beschreibt ihre Zugfahrt in einem Brief vom 21. Juli 1846. Dieser wurde im Buch "Bref till hemmet under en sommarresa 1846" abgedruckt. Darin beschreibt sie, die Erlebnisse ihrer ersten Zugfahrt – in Schweden gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine Dampfzüge. Ihre anfängliche Angst verfliegt schnell. „Die Landschaft sah man so klar und deutlich wie von einem schnell fahrenden Dampfschiff aus“, lässt sie den Leser wissen. Und wer sich jetzt fragt, wie schnell der Zug wohl damals unterwegs war, dem sei gesagt: etwa 28 km/h.
5. Brief: Berlin, 21. Juli 1846
Immer weiter geht es jetzt nach Süden und das merkt man auch wahrhaftig, denn hier ist es unerträglich warm. Gestern Abend hat es heftig gedonnert und geblitzt und wir hofften auf eine Abkühlung, aber heute ist es genauso schrecklich heiß.
Ich muss von unserer Hinfahrt erzählen, die reibungslos und schnell ging – von Kopenhagen aus dauerte es 28 Stunden. Die Geyser ist ein herrliches Schiff und man fühlte sich wohl, wenn auch hier – wie überall – die armen Damen immer die Betrogenen waren und es am schlechtesten getroffen hatten. Es war jedoch recht gut, ungeachtet des schrecklichen Umstands, dass man in Kojen übereinander lag. Ich wage dann nie zu schlafen, weil ich fürchte, mir beim Aufwachen den Kopf zu stoßen. Wir lagen beide wach und um fünf Uhr waren wir fertig angezogen auf dem Vorderdeck, denn auf dem Achterdeck blies noch ein kalter Wind. Wo wir auch hinschauten – Himmel und Meer – aber bald erschien Usedom mit seinen weißen Stränden, wenig später die Küste bei Swinemünde und dann ein kleines Segelschiff auf dem Haff – und um halb eins kamen wir in Stettin an. Dort war es nicht schön. Wir erlebten sofort kleine Missgeschicke – und vor allem hatten wir Angst vor der Eisenbahn oder besser gesagt: davor, mit ihr zu fahren, denn seltsamerweise war von uns allen – Schweden, Norwegern und Dänen – noch nie jemand Eisenbahn gefahren.
Es regnete in Strömen, der Donner polterte und der table d’hôte sah schrecklich aus. Wir bekamen etwas zu essen, aber es war nicht gut, um nicht zu sagen: schlecht.
Schließlich rollten wir klopfenden Herzens in unseren Droschken zum Bahnhof, weil der Zug um vier Uhr abfahren würde. K. war zum schwedischen Konsul gegangen, der versprochen hatte, sich um alles zu kümmern – aber ich werde nie im Leben das infame Gefühl vergessen, das mich überkam, als wir dort standen – sicher zweihundert Leute – mit „Gepäck“; jeder bewachte seines wie ein Drache, weil er fürchtete, in diesem Gedränge und Gewimmel, diesem Ameisenhaufen aus rennenden und schreienden Menschen von all seinen geliebten Taschen etc. getrennt zu werden oder sie zu verlieren. Mir war zum Weinen zumute und ich beruhigte mich erst, als ich K. und Baron H. sah. Die beiden liefen hin und her, um die Sache zu regeln. Endlich hatten wir Glück: Wir bekamen Tickets und unsere kleine Gruppe einen Waggon für sich.
In dem Moment, in dem ich in den Waggon stieg, verschwand alles Unbehagen, und es war die angenehmste Reise, die man sich vorstellen kann. Stell Dir ein kleines Kabinett vor oder, wenn Du willst, eine große Berline mit zwei einander gegenüberstehenden guten und bequemen Sofas, auf denen man wunderbar sitzt, vier Personen auf jedem, insgesamt acht. Die Waggontüren waren genauso wie die einer normalen Berline und man konnte von einer langen Brücke, neben der der Zug stand, direkt einsteigen, ganz ohne Stufen. Es war sehr leicht und bequem, und man konnte alles mitnehmen, was man brauchte – Schatullen, Reisetaschen, Hutschachteln etc. An der Decke hing ein Netz, in dem man man alle überzähligen Mützen, Schals und Paletots verstaute; dann hängten wir Damen unsere Hüte auf und zehn Minuten später kam ein freundlicher Herr und – schloss uns ein, als seien wir die Insassen eines Irrenhauses. Das ärgerte unsere Herren etwas; aber als sie sich gerade beschweren wollte, pfiff, knirschte und heulte es! Und nun ging es los! Aber längst nicht so schnell, wie viele behaupten. Blumen und Bäume waren gut zu erkennen, ebenso die Gesichter der Leute, an denen wir vorbei sausten. Die Landschaft sah man so klar und deutlich wie von einem schnell fahrenden Dampfschiff aus. Für das Wohlbefinden machte es keinen Unterschied, ob man vorwärts oder rückwärts fuhr, und wir waren sehr zufrieden mit dieser Art der Fortbewegung. Anfangs schloss wohl der eine oder andere die Augen davor, was der Wagen und die Welt zu bieten hatten, aber – nach einem kleinen, teils natürlichen, teils gekünstelten Schläfchen waren alle wach, froh und munter. Ungefähr jede halbe Stunde hielt der Zug an, immer bei einer solchen Brücke – eine auf der rechten, eine auf der linken Seite –, der freundliche Herr kam, schloss den Waggon auf und sagte: „Zehn Minuten“ oder „Fünf Minuten“ und einmal nur „Drei Minuten“, aber sieh nur einer unsere Herren an! Sie wagten den Coup, stiegen ständig aus, um sich umzusehen, während wir zurückblieben und uns sorgten, dass sie nicht rechtzeitig wiederkommen würden, aber – wenn sie mit lustigen Erzählungen und saftigen Kirschen zurückkamen, verziehen wir ihnen.
Ja, die Reise war sehr lustig und in vieler Hinsicht unvergesslich. Um acht Uhr – nach der Fahrt durch eine flache, aber schöne, wohl bestellte und dicht besiedelte Landschaft, die tausend Münder vor mir beschrieben haben – kamen wir in dem großen, reich bevölkerten, grandiosen Berlin an, der ersten richtigen Stadt, die ich gesehen habe [...]
Weitere Briefe der Sofie von Knorring gibt es hier
***
Originaltext: "Bref till hemmet under en sommarresa 1846", 5. Brief vom 21. Juli, von Sofie von Knorring.
Übersetzung: Nadine Erler.
Einleitung: Tina Romstedt