Mit den „Pariser Verträgen" war aber nur eine provisorische Lösung gefunden , solange Deutschland geteilt blieb. Dieses Provisorium war schon in der Präambel des Grundgesetzes, unserer Verfassung von 1949, zum Ausdruck gekommen. Sie erklärte : das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefodert, in f r e i e r S e l b s b e s t i m m u n g die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
In der internationalen Politik stand zunächst das Selbstbestimmungsrecht im Vordergrund. Es ist in Art.1 und 55 der Satzung der Vereinten Nationen verankert. Es steht auch jeweils in Art.1 an der Spitze der beiden grundlegenden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen von 1966 über die bürgerlichen und politischen sowie über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Dort wird es dahingehend definiert, daß alle Völker frei über ihren politischen Status entscheiden und in Freiheit ihre wirschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung gestalten.
Es ist klar, daß dies die entscheidende Grundlage war, auf die sich die Kolonialvölker nach dem II. Weltkrieg in ihrem Verlangen nach Unabhängigkeit beriefen. Aber auch in Europa hatte dieses Grundrecht der Völker eine überragende Bedeutung, ganz besonders für Deutschland, das gegen seinen Willen in zwei Teile gespalten war, aber auch für ganz Osteuropa, in dem die Völker von einer fremden Vormacht einem System unterworfen worden waren, das sie in ihrer Mehrheit ablehnten. Es galt darüber hinaus auch für Teile der Sowjetunion selbst, die die Kolonialpolitik des zaristischen Rußland fortsetzte.
Für Deutschland war das Selbstbestimmungsrecht bei seinem Kampf um die Wiedererlangung der staatlichen Einheit nach dem II. Weltkrieg von überragender politischer Bedeutung. Es appellierte an die Völker der „Dritten Welt", es dabei zu unterstützen, ebenso wie Deutschland ihnen durch seine Entwicklungshilfe half, nach erlangter staatlicher Unabhängigkeit ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung aufzubauen. Also Solidarität auf der Basis der Gegenseitigkeit. Der zweite Präsident der Bundesrepublik Deutschland Heinrich Lübke wurde nicht müde, das immer wieder zu betonen.
Aber die Spaltung Deutschlands dauerte länger und länger. Die innerdeutsche Grenze wurde auf östlicher Seite immer rücksichtsloser durch gewaltige Grenzbefestigungen abgesperrt. Wer sie dennoch überwinden wollte, wurde beschossen und dabei oft getötet. Am 13.August 1961 war der Tiefpunkt: in Berlin wurde die schreckliche Mauer hochgezogen. Dies alles, um dem östlichen Teil Deutschlands das Selbstbestimmungsrecht und seinen Bewohnern ihre individuellen Menschenrechte bis hin zum Recht auf Leben zu nehmen.
1969 setzte der Versuch der neuen sozialdemokratisch-liberalen Regierung Brandt ein, die grausamen Folgen der Teilung abzumildern. Es war ein schmaler Grat, den Deutschland gehen mußte: einerseits am Selbstbestimmungsrecht und an der staatlichen Einheit festzuhalten, andererseits aber mit dem kommunistischen Regime über menschliche Erleichterungen zu verhandeln und dabei von den b e i d e n deutschen Staaten zu sprechen. Bis dahin hatte die Staatengemeinschaft ganz überwiegend (bis auf die kommunistischen Regime) akzeptiert, daß allein die Bundesrepublik das legitime Deutschland verkörperte. Nun ließ sich nicht mehr verhindern, daß ein Staat nach dem andern auch den östlichen Teil Deutschlands anerkannte und mit ihm diplomatische Beziehungen aufnahm. Der Unterschied zwischen staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Anerkennung schien zu subtil, um in der Weltöffentlichkeit zu überzeugen.
Aber die Bundesrepublik Deutschland war wieder ein wichtiger Faktor in der europäischen Politik und in der Weltwirtschaft geworden. Unsere Hoffnung bestand darin, daß Rußland eines Tages erkennen würde, daß es besser ist, den scharfen Gegensatz zu Deutschland nicht endlos fortzuführen.
Schließlich kam hinzu, daß die Sowjetunion den Rüstungswettlauf mit den USA nicht länger durchhalten konnte, daß sie durch ihr Eingreifen in Afghanistan eine ständig blutende Wunde hatte, die sie allmählich, aber spürbar schwächte, daß die Engpässe in der Versorgung ihrer Bevölkerung immer größer wurden, womit die innere Unzufriedenheit wuchs. Die sowjetische Regierung sah sich schließlich genötigt, hier Entlastung zu schaffen. Damit wurden Ende der 80er Jahre die Voraussetzungen günstig, mit der Sowjetunion in Verhandlungen über wirkliche Entspannungsschritte einzutreten.
Wie Sie wissen, hatte Deutschland noch keinen Friedensvertrag mit seinen ehemaligen Kriegsgegnern (während Japan mit den meisten seiner Kontrahenten 1951 den Friedensvertrag von San Francisco schloß, außer mit den beiden China und der Sowjetunion). Aber auch Deutschland hat in den 50er Jahren seine Beziehungen mit den meisten Kriegsgegnern normalisiert, diplomatische Beziehungen aufgenommen und zum Teil auch erhebliche wirtschaftliche Leistungen erbracht.
Im Londoner Schuldenabkommen von 1953 hatte Deutschland die Schulden aus der Zeit vor dem II.Weltkrieg anerkannt, aber ihre Begrenzung erreicht. Davon waren sogar die restlichen Reparationszahlungen infolge des Versailler Vertrags erfaßt. Auch die Schulden der ersten Nachkriegsjahre wurden in dem Vertrag geregelt. Deutschland hat seine Verpflichtungen aus dem Londoner Schuldenabkommen peinlich genau erfüllt; denn die Vertragspartner hatten sich die Einberufung einer allgemeinen Konferenz der Gläubiger für den Fall der Nichterfüllung vorbehalten. Eine solche Konferenz hätte praktisch die meisten ehemaligen Kriegsgegner auf den Plan gerufen und neue Reparationsforderungen auslösen können.
Auch von einer verspäteten Friedenskonferenz hätte man dies befürchten müssen - trotz aller in der Zwischenzeit erbrachten Leistungen Deutschlands. Außerdem hätte die Gefahr bestanden, daß man bei so vielen Teilnehmern in endlosen Debatten „vom Hundertsten ins Tausendste" gekommen wäre. Das hätte Möglichkeiten verschütten können, zu einem Arrangement mit den vier Hauptgegnern des II. Weltkriegs zu kommen, die die Schlüssel zur Wiedervereinigung in den Händen hielten.
Daher hatte Deutschland ein überragendes Interesse daran, nur mit den Vier Mächten zu verhandeln, die sich ihre Rechte in Bezug auf Deutschland als Ganzes vorbehalten hatten - trotz der - zumindest theoretischen - Anerkennung der deutschen Souveränität für beide Teile Deutschlands auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. So arbeitete Deutschland mit besonderer Unterstützung der USA auf die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen hin (beide Teile Deutschlands und die Vier Mächte).
Polen drängte stark auf eine Beteiligung, da es 1945 auf Grund der Potsdamer Beschlüsse (der Haupt-Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien ; Frankreich wurde noch nicht hinzugezogen) die östlichen Gebiete Deutschlands „zur Verwaltung" erhalten hatte, etwa ein Viertel des deutschen Staatsgebiets. Die dort ansässigen Deutschen wurden in ihrer ganz großen Mehrheit schonungslos vertrieben, soweit sie nicht bereits gegen Kriegsende vor den heranrückenden Sowjets geflohen waren.
Die polnische Regierung drängte seit Jahrzehnten darauf, daß die vorläufige Grenze an den Flüssen Oder und Neiße von Deutschland vorbehaltlos und endgültig anerkannt würde. Die Menschen, die aus diesen Gebieten vertrieben worden waren, stellten einen erheblichen Teil der Bevölkerung in beiden Teilen des Landes dar (etwa 8 Millionen im Westen, 4 Millionen im Osten), und sie wollten - besonders im Westen - in ihrer übergroßen Mehrzahl einen Verzicht auf ihre Heimat nicht hinnehmen.
Andererseits machten nicht nur Polen und die Sowjetunion, sondern auch die Westmächte klar, dass eine Einigung über die Wiedervereinigung ohne diesen Verzicht nicht erreicht werden könne. Auch 45 Jahre nach Kriegsende war es für die deutsche Seite nicht leicht, auf ein Viertel des Territoriums zu verzichten, das über viele Jahrhunderte zum Deutschen Reich gehörte und in der Zeit fast nur von Deutschen besiedelt war.(Diejenigen Ostprovinzen, die nicht so lange zu Deutschland gehört hatten und in denen teilweise auch nicht-deutsche Minderheiten lebten, waren schon nach dem I.Weltkrieg verloren gegangen.)
Die Grundlage dieser für Deutschland glücklichen Entwicklungen, der Zwei-plus-Vier-Vertrag, wurde am 12.September 1990 in Moskau unterzeichnet und trat am 15.März 1991 mit der letzten Ratifizierung in Kraft. Er war in den wenigen Monaten von Mai bis September 1990 ausgehandelt worden. Dabei genoß Deutschland die uneingeschränkte Unterstützung der USA. Rußland mußten erhebliche Zugeständnisse abgerungen werden. Der Durchbruch gelang mit einem Besuch von Bundeskanzler Kohl bei Präsident Gorbatschow im Kaukasus im Juli 1990. Der französische Präsident Mitterrand war anfangs skeptisch, die britische Premierministerin Margaret Thatcher blieb es bis zum Schluß. Sie versuchten dementsprechend, die Entwicklung abzubremsen, konnten sich ihr aber nicht entgegenstemmen.
Parallel zu Zwei-plus-Vier mußte auf deutscher Seite der innerstaatliche Rahmen für die Einheit nach 45 Jahren einer fortschreitenden Trennung geschaffen werden. Schon seit Februar 1990 war zwischen den beiden deutschen Seiten über einen Vertrag zur Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verhandelt worden, dem die Parlamente im Juni zustimmten. Dann folgten die Verhandlungen über den zweiten umfassenden Einigungsvertrag, der eine Vielzahl von institutionellen und Rechts- fragen zu regeln hatte. Mit Wirkung vom 3.Oktober 1990 traten die Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR der Bundesrepublik Deutschland und ihrem Grundgesetz (ihrer Verfassung) bei, und der Einigungsvertrag, dem die Parlamente beider Teile Deutschlands bereits zugestimmt hatten, trat unmittelbar in Kraft. Der 3.Oktober wurde zum neuen deutschen Nationalfeiertag erklärt.
Am 2.Dezember 1990 wurden die Wahlen zum ersten Bundestag des wiedervereinigten Deutschland durchgeführt. Bemerkenswert, wie schnell der Prozeß vonstattenging, weil allen Beteiligten klar war, daß die günstige Konstellation vielleicht nur kurzfristig war und daß keine Zeit verloren gehen durfte.
Gerade zur Zeit meiner Rückkehr geriet das kommunistische Regime der ostdeutschen DDR ins Wanken, und die Dinge kamen schnell in Bewegung. Man mußte sich vorsorglich mit den Themen befassen, die bei einem Zusammenbruch der DDR auf uns zukommen und neue Regelungen für Deutschland erforderlich machen könnten. In meine Zuständigkeit fielen insbesondere:
Als die Beendigung der Nachkriegsregelungen und die „Lösung der deutschen Frage" in Gang kamen, wuchs diese Materie gewaltig an Aktualität, Umfang, Bedeutung und Eilbedürftigkeit - weit über die Arbeitskapazitäten eines Referats hinaus. Die grundlegenden außenpolitischen Entscheidungen und die daraus folgenden internationalen Verhandlungen waren jedoch ohnehin eine Sache der hohen und höchsten Ebene und erforderten die geballte Arbeitskraft des Bundeskanzleramts, des Auswärtigen Amts und aller sachlich betroffenen Ministerien. Aber es blieben doch reichlich - hauptsächlich juristische - Fragen übrig, die von meinem Referat geprüft, gelöst und mit den anderen beteiligten Staaten verhandelt werden mußten.
Das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut von 1959 (nach dem deutschen Beitritt zur NATO), das die verschiedensten Einzelbereiche des rechtlichen Status der alliierten Truppen im Westen Deutschlands geregelt hatte, mußte neu verhandelt werden. Es betraf sehr unterschiedliche juristische Materien vom Strafrecht, Zivilrecht ,Verkehrsrecht bis zum Postwesen, Rundfunk.
Außerdem wurde ein Abkommen über das Truppenstatut der sowjetischen Streitkräfte im Osten Deutschlands vorbereitet, das möglichst identisch mit dem westlichen Abkommen sein sollte. Hierfür hatte ich eine Mitarbeiterin abzustellen, die darin über die besten Erfahrungen verfügte. Sie wirkte bei den Verhandlungen mit, die durch die zuständigen Fachleute mit den Sowjets geführt wurden.
Ein wichtiges Arbeitsgebiet war die Abwehr von Reparationsforderungen ehemaliger Kriegsgegner und von Entschädigungsforderungen einzelner Personen, die z.B. während des Krieges Zwangsarbeit geleistet hatten. Unser Standpunkt war, daß sich die Reparationsfrage durch den langen Zeitablauf, erhebliche deutsche Leistungen anderer Natur sowie durch die Aufnahme diplomatischer, oft freundschaftlicher Beziehungen erledigt hatte. Einzelpersonen können nach Völkerrecht gegenüber einem fremden Staat keine Forderungen geltend machen, sondern müssen das ihrem Staat überlassen. Das fällt dann unter Reparationsleistungen. Japan war sicher mit ähnlichen Forderungen konfrontiert. Ein Sondergebiet waren bei uns die Wiedergutmachungsansprüche der vom Hitler-Regime verfolgten Juden. Hier hatte der deutsche Bundeskanzler Adenauer schon 1952 mit dem israelischen Regierungschef Ben Gurion ein Wiedergutmachungsabkommen abgeschlossen (über 3,5 Milliarden DM).
Israel forderte nach der Wiedervereinigung ein „weiteres Drittel", weil die DDR noch keine Wiedergutmachung geleistet habe. Dafür bestand aber keine rechtliche Basis, da die Bundesrepublik 1952 für ganz Deutschland gezahlt hatte. Daneben erhielten die verfolgten deutschen Juden auf Grund unserer eigenen Gesetzgebung angemessene Entschädigungen. Außerdem wurden noch wiederholt bis in die jüngste Zeit hohe Beträge an die Jewish Claims Conference gezahlt, die diese an die Betroffenen verteilte. Gegenüber diesem Personenkreis hat die deutsche Seite stets eine besondere Pflicht empfunden.
Schon unmittelbar nach dem Kriege hatten die Vier Mächte kraft der von ihnen in Deutschland ausgeübten Gesetzgebung großzügige Wiedergutmachungsregelungen für die verfolgten Juden verabschiedet. Die Fortgeltung dieser Bestimmungen war im Überleitungsvertrag von 1955 ausdrücklich festgehalten, ebenso wie eine Fülle weiterer von den Alliierten eingeführter Maßnahmen, die Deutschland belasteten, z.B. über die Beschlagnahme der deutschen Auslandsvermögen der Vorkriegszeit, die Zerschlagung des früheren Großkonzerns der chemischen Industrie IG Farben u.s.w.. Ich habe lange darüber verhandelt, diesen Vertrag aufzuheben, auch wenn an den geschaffenen Tatbeständen meist nichts mehr zu ändern war.
Aufzuheben war auch der Deutschland-Vertrag mit den Westmächten über den Status und die Grenzen Deutschlands, da er durch Zwei-plus-Vier erledigt war. Über den Aufenthaltsvertrag, die Rechtsgrundlage für die Anwesenheit der westlichen Truppen auf deutschem Boden, wurde lange verhandelt -auf höherer Ebene. Das Ergebnis hat die Probleme gelöst, wie die inzwischen verstrichene Zeit bestätigt.
Weitere Verhandlungen waren über die Aufhebung des Besatzungsrechts in West-Berlin erforderlich, das bis zum Zwei-plus-Vier-Vertrag noch galt (auch dies war meine Aufgabe). Wir hatten den Besatzungszustand über Jahrzehnte in Kauf genommen, da wir das unmittelbare Engagemment der Westmächte in Berlin aufrechterhalten wollten - wegen der latenten Bedrohung der Stadt durch die Sowjetunion und die DDR.
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Bildquellen:
Vorschaubild, Dietrich Linke, Botschafter a.D - Quelle: Florian Russi
Rede zu den Pariser Verträgen von Bundeskanzler Konrad Adenauer, Bundesarchiv, B 145 Bild-F002450-0005 / Unterberg, Rolf / CC-BY-SA
Die Berliner Mauer, Hannelore Eckert
Hermann Josef Abs unterzeichnet das Londoner Schuldenabkommen am 27. Februar 1953, Deutsche Bank AG, Kultur und Gesellschaft Historisches Institut, Frankfurt am Main, GNU Lizenz, Wikipedia.
Zusammenkunft der ersten Gesprächsrunde, Bundesarchiv, B 145 Bild-F083821-0005 / Arne Schambeck / CC-BY-SA