Egal, wie schwer uns das Schicksal im Leben zusetzen mag, die schönen Erinnerungen an bessere Zeiten kann uns keiner mehr nehmen. Dieses Statement setzt der Dichter Horst Fischer mit seinem Gedicht "Wärmflaschen für's Herz". Denn schöne Erinnerungen haben tatsächlich oft die Macht, traurige Gedanken oder Verzweiflung zu vertreiben und sind so in der Lage, das Herz zu erwärmen. Im vorliegenden Gedicht beschreibt Fischer zunächst die Momentaufnahme einer betagten Dame, die in einem Pflegeheim lebt, bevor er dann einen Teil ihrer Lebenserinnerungen in berührender Art aufgreift.
Carolin Eberhardt
Sie sitzt seit langem nun in einem Pflegeheim,
wie heißt's so schön: versorgt und wohl geborgen,
doch fühlt sie sich nicht selten sehr allein
und außerdem macht die Gesundheit Sorgen.
Die mit am Tische sitzen im Gemeinschaftsraum
leben zum größten Teil schon in der and'ren Welt.
Ein Wort zu wechseln miteinander geht da kaum.
So ist sie eigentlich nur auf sich selbst gestellt.
Und so spazieren die Gedanken jeden Tag
ein weites Stück zurück, oft bis zum Lebens März
und streicheln sie, was sie besonders mag.
„Erinnerungen sind die Wärmflaschen für's Herz.“ *
Aus einem Kästchen nimmt sie oft mit ruh'ger Hand
wahllos ein Fotobild aus einem Stoß heraus
und schon ergießt wie über einer Quelle Rand
ein Schwall von Wissen sich aus dem Gedächtnis aus.
Sie hat so viel erlebt, erlitten - und erreicht.
Sie war die gute Seele im Gemeindeleben.
Jedem hat sie geholfen, oft war das nicht leicht.
Für jede gute Sache hat sie Geld gegeben.
Dann kam die Zeit vom großen Abschiedsgrämen.
Die lange Liste zählt sie auf nicht ohne Schmerz,
doch all das Schöne - nein, das soll ihr keiner nehmen.
„Erinnerungen sind die Wärmflaschen für's Herz.“
(2018)
* Aphorismus von Rudolf Fernau aus Laacher Postkartenbuch
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Vorschaubild: text-buchstabe-alt-briefe-retro-4095909, 2019, Urheber: margarita_kochneva via Pixabay CCO.