Gretchen sitzt allein am Spinnrad und im Rhythmus des Rades führt sie ein Selbstgespräch über ihre Liebe zu Heinrich Faust. Sie bewundert ihren Liebhaber, ist ihm völlig verfallen, kann nur an ihn denken. Was sie sagt, zeugt nicht von Glück, sondern von Besorgnis. Als glückliche Liebende hätte sie Visionen und Träume vom Himmel, den Sternen, von Sonne, Blumen oder Rosengärten, von Zärtlichkeit und Vertrautheit, vielleicht auch von einem zerwühlten Bett haben müssen. Doch sie denkt ans Grab. Sie befürchtet und spürt, dass ihre Liebe unglücklich enden und sie das Opfer der ungleichen Beziehung sein wird.
Er hatte das Ziel, das „junge Blut" zu verführen und zu besitzen. Dabei hat er ihre Unerfahrenheit und Naivität ausgenutzt. Jetzt sitzt sie allein am Spinnrad, arbeitet vielleicht schon am „Strampelhöschen" für das zu erwartende Kind. Faust ist nicht in der Nähe. Sie hält einen Monolog, aber allein daraus geht hervor, dass ihrer Liebesbeziehung das Vertrauliche, das Einverständnis, der feste, sichere Bezug fehlt. Das bedrückt, bei aller schönen Metrik und Sprachgewalt des Textes, auch den Leser.
„Wenn Frauen zu sehr lieben" ist der Titel eines Buches von Robin Norwood. Auch Gretchen hat zu sehr und zu einseitig geliebt.
Florian Russi
Gretchen:
Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.
Wo ich ihn nicht hab,
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt.Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.Nach ihm nur schau ich
Zum Fenster hinaus,
Nach ihm nur geh ich
Aus dem Haus.Sein hoher Gang,
Sein edle Gestalt,
Seines Mundes Lächeln,
Seiner Augen Gewalt,Und seiner Rede
Zauberfluß,
Sein Händedruck,
Und ach sein Kuß!Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.Mein Busen drängt
Sich nach ihm hin,
Ach dürft ich fassen
Und halten ihn,Und küssen ihn,
So wie ich wollt,
An seinen Küssen
Vergehen sollt!
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Vorschaubild: Illustration zu Goethe, Faust I, Szene: Gretchens Stube. Urheber: Gustav Schlick und
Adolf Hohneck, 1834. Quelle: wikimedia commons.