Einst teilten sich ein Gimpel und ein Rabe einen Vogelkäfig. Sie vertrugen sich gut und hatten keinen Streit miteinander. Nun ging es aber folgendermaßen zu: begann der Gimpel, ein Liedchen zu singen, so hielten alle Bewohner des Hauses inne, sogar die Tiere, um seinem Gezwitscher andächtig zu lauschen. Gab aber der Rabe seinen Gesang zum Besten, um Fleisch und Brot zu erbetteln, so erhielt er alles, was er wollte, nur damit er mit seinem fürchterlichen Krächzen aufhörte. So lebte der Rabe in Saus und Braus, der Gimpel aber, welcher Mensch und Tier mit seinem schönen Gesang erfreute, war zu bescheiden, um etwas einzufordern. So litt er Hunger und Durst, und selbst, als es ihm richtig schlecht erging, wagte er nicht, Futter und Wasser zu erbetteln.
Und so fand man den Gimpel eines Morgens leblos im Käfig liegen. Nie mehr wird sein Lied erschallen, doch war er nun erlöst von seinen Qualen. Der Rabe erfreute sich noch eines langen und erfüllten Lebens, hatte er doch nun nicht nur genügend Futter und Wasser, sondern auch den Käfig für sich allein.
Und die Moral von der Geschicht‘: die Bescheidenen sieht und hört man oft nicht.
neu erzählt von Carolin Eberhardt
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Vorschaubild: gimpel-vogel-sitzend-zweig-fauna-38396, 2012, Urheber: Clker-Free-Vector-Images via Pixabay CCO; dohle-krähe-zeichnung-lineart-2022854, 2017, Urheber: StarGlade via Pixabay CCO; Lustige Naturgeschichte oder Zoologia comica. München: Braun & Schneider, 1877, Urheber: Adolf Oberländer via Wikimedia Commons Gemeinfrei; neu bearbeitet von Carolin Eberhardt.