Sesenheimer Liebeslyrik
Florian Russi
Bild 1: Pfarrhaus Sessenheim um 1770 (Rötelzeichnung von Goethe)
Von April 1770 bis Sommer 1771 studierte Johann Wolfgang Goethe Rechtswissenschaften in Straßburg. Als er dort eintraf, war er 20 Jahre alt. In der damals 46.000 Einwohner zählenden Domstadt begegnete er zum ersten Mal dem damals schon bedeutenden Dichter, Literaturwissenschaftler und Theologen Johann Gottfried Herder. Von ihm lernte Goethe, wie die Dichtkunst sich volksnah, ursprünglich, verständlich und nicht abgehoben ausdrücken konnte. In Straßburg führte Goethe ein intensives Studentenleben, schloss Freundschaften und beschäftigte sich mit Architektur, Kunst, Geographie und Naturkunde. Einer seiner Freunde, der Medizinstudent Friedrich Leopold Weyland, nahm ihn mit, als er im Oktober 1770 die ihm bekannte Pfarrersfamilie Brion im knapp 40 km nördlich von Straßburg gelegenen Dorf Sesenheim (heute Sessenheim geschrieben) besuchte. Aus Jux gab sich Goethe bei diesem ersten Besuch als mittelloser Theologiestudent aus.
Bild 2: Friederike Brion in Elsässer Tracht
Pfarrer Brion und seine Frau hatten 5 Kinder, einen Sohn und vier Töchter. In die zweitjüngste, Friederike, zu dieser Zeit 18 Jahre alt, verliebte sich Goethe. Die Eltern waren für die damaligen Konventionen ungewöhnlich tolerant. Sie erlaubten ihrer Tochter, dass sie mit dem jungen Mann häufig allein in der Umgebung von Sesenheim spazieren ging, benachbarte Orte aufsuchte, bei Freunden und Bekannten einkehrte und in den wenige Kilometer entfernten Rheinauen wanderte. Mindestens sieben Mal hat sich Goethe als Student in Sesenheim aufgehalten, einmal sogar für 5 Wochen. Ein weiteres Mal hat sich das Paar in Straßburg getroffen. Familie Brion beherbergte und bewirtete ihn in Sesenheim gastfreundlich in ihrem Pfarrhaus, das später abgerissen und 1835 neu erbaut wurde. Seiner Liebe zu Friederike gab Goethe in mehreren Gedichten Ausdruck, die als „Sesenheimer Liebeslieder" in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Einige davon werden zu seinen besten überhaupt gezählt. Sie zeichnen sich durch intensive Gefühle und kreative Freiheit im Ausdruck aus. Die Sesenheimer Liebesbeziehung gehört zu den wenigen bedeutenden Liebesgeschichten, die wir kennen. In ihrer Folge zieht es immer wieder Literaturbeflissene, verliebte Paare und Neugierige in den kleinen
Ort im Elsass.
Bild 3: Buchcover "Das Sesenheimer Liebesidyll" von Raymond Matzen
Im Sommer 1771 legte Goethe an der Straßburger Universität ein Lizentiaten-Examen ab und kehrte danach in seine Geburtsstadt Frankfurt zurück. Kurz zuvor hatte er die Beziehung zu Friederike beendet. Auf einem Pferd sitzend hatte er ihr zum Abschied die Hand gereicht. Wie er später an Frau von Stein schrieb, hat die Trennung die immer noch verliebte Friederike damals an den Rand des Grabes gebracht. Raymond Matzen
* erzählt, dass der große Theologe und Humanist
Albert Schweitzer einem befreundeten Pfarrer gesagt hätte: „Dieser Simpel hätt´s Rikel hirote sotte, er wärt mit em bigott nitt schlecht g´fahre" (Der Dummkopf hätte das Rikchen heiraten sollen, er wäre mit ihm bei Gott nicht schlecht gefahren). Als ich ähnliches einmal als Schüler geäußert habe, antwortete mein damaliger Lehrer und späterer Freund Prof. Aberham: „Stell dir vor, Goethe wäre Notar in Haguenau" (ein Städtchen in der Nähe von Sesenheim) „geworden und hätte sonntags seiner Frau das Geschirr abgetrocknet. Was wäre dann aus der deutschen Literatur geworden?"
„Goethe entschied sich für die Weltliteratur", schrieb dazu auch sein großer Biograph Richard Friedenthal. Zurück blieb eine enttäuschte junge Frau, die bis an ihr Lebensende unverheiratet blieb. Sie soll geäußert haben: „Wer von Goethe geliebt worden ist, kann keinen anderen lieben". Es wird von ihr berichtet, dass sie in ihrem weiteren Leben sehr herzlich, liebenswert, hilfsbereit und sozial engagiert gewesen sei. Auch Goethe, der Friederike während einer Reise in die Schweiz nochmals besuchte, war sehr überrascht über die freundliche Art, mit der sie ihm begegnete.
Wir jedenfalls haben der jungen Friederike wunderbare Verse zu verdanken und wollen die Pfarrerstochter deshalb in höchsten Ehren halten.
* "Das Sesenheimer Liebesidyll"; ein äußerst lesenswertes Buch über die Sesenheimer Idylle schrieb Raymond Matzen, Goethe und Friederike Brion, Das Sesenheimer Liebesidyll, Morstadt Verlag Kehl, 2. Auflage 2003
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Vorschaubild: Büste und Inschriften im Goethe-Memorial in Sessenheim; Foto: Florian Russi
Bild 1: wikimedia - gemeinfrei
Bild 2: wikimedia - gemeinfrei
Bild 3: Buchcover - Raymond Matzen, Goethe und Friederike Brion, Das Sesenheimer Liebesidyll, Morstadt Verlag Kehl, 2. Auflage 2003 - mit freundlicher Genehmigung des Verlags
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