Im Jahre 1881 lernte ich in Kellinghusen in Holstein den Kirchspielvogt Baron von Liliencron geschäftlich und an der Wirtschaftstafel kennen. Zuletzt Hardesvogt der schleswigschen Wattenmeerinsel Pellworm, war er kürzlich als Kirchspielvogt nach Kellinghusen versetzt worden. Im Nebenamte versah er zugleich die Funktionen des Amtsanwalts, da kreuzte ich als gelegentlicher Verteidiger in Strafsachen mit ihm die Waffen vor dem Schöffengericht. Der königliche Kirchspielvogt und Amtsanwalt Baron von Liliencron war ein milder Ankläger.
Von dem neuen Beamten wußte man nicht viel mehr, als dass er einer alten holsteinischen Familie angehöre, Hauptmann a. D. sei und drei Feldzüge mitgemacht habe.
Wäre man seinen Personalien weiter nachgegangen, so hätte sich ergeben, dass er am 3. Juni 1844 in Kiel geboren war und mit Vornamen Friedrich hieß. Dass er ein Dichter, davon erzählten höchstens seine verträumten Augen. Die Welt wußte das so wenig wie Kellinghusen, denn das Konzept zu seinen Adjutantenritten ruhte noch im verschwiegenen Pult.
Lange dauerte es nicht, da legte der Kirchspielvogt und Amtsanwalt Friedrich von Liliencron seine Ämter nieder, ein Dichter Detlev von Liliencron trat mit den „Adjutantenritten", mit Novellen und Dramen hervor, das größte Aufsehen erregend, die glänzendsten Hoffnungen erweckend. Also: zwei Träger des Namens? - O, nein! Der Dichter Detlef von Liliencron war ein kein anderer, als der Kirchspielvogt Friedrich von Liliencron. Den ihm bürgerlich nicht zukommenden Vornamen Detlev hatte er sich als nom de guerre zugelegt.
Detlev von Liliencron behielt vorderhand in Kellinghusen seinen Wohnsitz. Ich war nicht am Ort ansässig, meine Geschäfte führten mich seltener dahin. So ist es ge-kommen, daß ich ihm erst 1887 persönlich näher getreten bin. Die Freundschaft, die er mir seitdem schenkt, ist mir je länger, je mehr, ein köstlicher Lebenswert geworden.
Jetzt ist Detlev von Liliencron ein anerkannter Dichter, er ist - so sagt die herrschen-de Richtung - der größte zeitgenössische Lyriker, wenigstens deutscher Zunge. Er hat den Ruhm schwer erkämpfen müssen. Zwei Jahrzehnte düsterer Kämpfe liegen hinter ihm.
Der erste Platz? Die Stelle ist viel umworben, es ringen andere mit Liliencron um die Palme. Die endgültige Entscheidung mag die Literaturgeschichte treffen. Daß Liliencron eine hervorragende Erscheinung ist, sieht nachgerade selbst der Blinde. - „Auf die Bahn dieses Dichters scheinen die Sterne zukünftigen Ruhmes" - so begrüßte die Kritik sein Auftreten. - Wir halten die Erfüllung dieses Worts in Händen.
Als Liliencron „Adjutantenritte" veröffentlichte, war die Zeit der Stürmer und Dränger. Die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches hatte nicht, wie man gehofft, eine neue Blüte der schönen Literatur gebracht. Wohl schufen noch Meister, die Storm und Groth, die Reuter und Raabe, aber die große Masse ließ sich mit der schablo-nenmäßigen Unterhaltungsliteratur, mit der Lyrik von Julius Wolf und Rudolf Baumbach abfinden. Es war alles konventionell. Nur nichts aus der Art Schlagendes, nur nichts, was die deutsche Bürgerfamilie an Not, an Elend, an Fabriken, an Häßliches und Widriges erinnert! - Das war die offene oder stille Losung.
Gegen diese Art von Literatur wendete sich die von den Gebrüdern Julius und Heinrich Hart eingeleitete Revolution. Die Träger und Führer der Bewegung, die Bleibtreu, Conrad, Conradi, Holz, Arent, Mackay, Henkell gebärdeten sich temperamentvoller, leidenschaftlicher, persönlicher, ehrlicher. Die Poesie suchte ihre Modelle auf den Gassen, in den Fabriken, in den Hinterhäusern, in den Hütten der Armen. Ein Gebot der Verschleierung wurde nicht anerkannt, die menschliche Seele wurde in ihrer Nacktheit gezeigt. Das Entartete, das Widrige, das Häßliche wurde nicht gemieden, eher gesucht, weil es charakteristischer und individueller, daher als Objekt der Darstellung dankbarer war, als das natürliche Schöne. Es gab mehr Raum für eine selbständige Auffassung und war den Priestern der Kunst, die die Auslebung der Person über alles betonten, willkommen. Daneben war die neue Poesie eine Tendenz- und Weltanschauungspoesie, worin der Dichter an die ungelösten Fragen das Wohin? und Wozu? herantrat und sie aus seiner Anschauung poetisch beantwortete.
Liliencrons Poesie ist in diesen Worten treffend beschrieben. Es gibt kaum einen anderen Dichter mit so minimaler Anlage und mit so geringem Geschick für Reflexion. Wo er es versucht, bewegt er sich unbeholfen, weil auf einem seiner natürlichen Befähigung fremden Gebiet. Glaubt er an das Nirwana? Ist er Anhänger eines in transzendenter Welt begründeten Optimismus? Wir wissen es nicht. Er ist keine Faustnatur, er gibt sich, wie er ist.
So war ihm vielleicht das Höchste versagt, aber er hat auch ohnehin mehr gegeben als die anderen. Er gab uns seine Naturpoesie, seine frische, flotte, aber auch un-sagbar innige Liebespoesie, seine bewegten und plastischen Balladen, seine einzige persönliche Gelegenheitspoesie, er gab uns Sicilianen und prächtigen Phantasiedichtungen.
Kiel, im März 1904
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Textquelle: entnommen aus dem Bändchen Gedichte von Detlev Liliencron, erschienen 1913 im Verlag des Volksbildungsvereins zu Wiesbaden als Nr. 57 der Reihe Wiesbadener Volksbücher