Diese Ballade Theodor Fontanes (1819-1898) handelt von einem Steuermann, der seine Dienst- und Fürsorgepflicht über das eigene Leben stellt und dadurch den ihm anvertrauten Menschen das ihre rettet. Die Geschichte hat einen historischen Hintergrund. In der Nacht vom 8. zum 9. August 1841 geriet der Raddampfer Erie während der Fahrt von Buffalo (Staat New York) über den Eriesee nach Erie (Pennsylvania) in Brand. Der Rudergänger Lothar Fuller blieb bis zuletzt auf seinem Posten und versuchte, das Schiff an die nächst gelegene Küste zu steuern. Lothar Fuller bildete das Vorbild für John Maynard. Anders als der Held der Ballade überlebte er, schwer verletzt, das Unglück. Auch wurden von den etwa 200 Passagieren an Bord nur 29 gerettet. Fuller konnte das Erlebte nicht verarbeiten. Er verfiel dem Alkohol und starb im Armenhaus.
John Maynard erinnert inzwischen auch an den US-Piloten Chesley Sullenberger, der durch eine kühne Notwasserung auf dem Hudson River im Jahr 2009 allen Passagieren des von ihm gesteuerten Airbus 320 das Leben rettete.
Fontanes Ballade wurde von Burt Erickson Nelson ins Englische übersetzt. Die englische Übersetzung ziert auch die Bronzetafel, die im Jahr 1997 in Buffalo zum Gedenken an das Schiffsunglück und seine Rezeption durch den berühmten deutschen Dichter direkt am Eriesee errichtet wurde.
Uta Plisch
John Maynard!
"Wer ist John Maynard?"
"John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard."Die "Schwalbe" fliegt über den Erie-See,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee;
von Detroit fliegt sie nach Buffalo -
die Herzen aber sind frei und froh,
und die Passagiere mit Kindern und Fraun
im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
und plaudernd an John Maynard heran
tritt alles: "Wie weit noch, Steuermann?"
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
"Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund."Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei -
da klingt's aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
"Feuer!" war es, was da klang,
ein Qualm aus Kajüt und Luke drang,
ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.Und die Passagiere, bunt gemengt,
am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
am Steuer aber lagert sich´s dicht,
und ein Jammern wird laut: "Wo sind wir? wo?"
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. -Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
der Kapitän nach dem Steuer späht,
er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
aber durchs Sprachrohr fragt er an:
"Noch da, John Maynard?"
"Ja, Herr. Ich bin.""Auf den Strand! In die Brandung!"
"Ich halte drauf hin."
Und das Schiffsvolk jubelt: "Halt aus! Hallo!"
Und noch zehn Minuten bis Buffalo. - -Noch da, John Maynard?" Und Antwort schallt's
mit ersterbender Stimme: "Ja, Herr, ich halt's!"
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
jagt er die "Schwalbe" mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!
Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell'n
himmelan aus Kirchen und Kapell'n,
ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
und kein Aug' im Zuge, das tränenleer.Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
mit Blumen schließen sie das Grab,
und mit goldner Schrift in den Marmorstein
schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
hielt er das Steuer fest in der Hand,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard."
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- Vorschaubild Raddampfer „Robert Fulton's Clermont". Ölbild von Frederic Leonard King (1879-1947). via Wikimedia Commons
- Foto John Maynard Memorial am Lake Erie in Buffalo. Urheber Thoralf Schade.; CC BY-SA 2.0/de via Wikipedia